#4 Family affair
- David Buri
- 13. Nov. 2024
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 29. Nov. 2024
12.November 2024 Heute habe ich mit meinem eineiigen Zwillingsbruder telefoniert. Es ging um das Gefühl des Mangels in unserer Kindheit. Schon mein Start war nicht gerade rosig. Mein Bruder sass mir sprichwörtlich mit dem Hintern im Gesicht. Daher entschieden sich die Ärzte zu einem Kaiserschnitt. Ich kam zuerst, ziemlich zerzaust und mit einem Herzrythmusfehler, der zwar nach kurzer Zeit abklang, der aber dennoch Aufmerksamkeit von Tag eins an brauchte. Ich bekam aus Sicht meines Bruders mehr Zuwendung von unserer Mutter. Er konnte natürlich nicht verstehen, warum man sich nicht ganz so intensiv um ihn kümmerte. Generell war ich ängstlicher und habe niemals Forderungen aus mir heraus gestellt. Ich forderte nur dann etwas ein, weil mein Bruder es machte. So nach dem Motto: wenn er das darf, dann darf ich das auch. Mit sechs Jahren entwickelte ich einen Sichelfuss am linken Bein, ich musste zur Orthopädin und wieder hatte mein Bruder das Gefühl zurückstecken zu müssen. Ich war alles in allem bedürftiger als er. So formte er daraus seine Überlebensstrategie: Ich muss schauen, wo ich bleibe und setze mich dafür ein. Meine war: Ich gehe zu Mama.

Als wir etwa zehn waren, sagte unsere Mutter, dass zwei Schlagzeuger im Haus nicht gehen. Einer von uns beiden müsse das Instrument wechseln. Mein Bruder war sehr klar, dass er Schlagzeuger bliebe und das tat er. Ich willigte mehr oder weniger begeistert zu Gitarre ein. Mir war damals gar nicht klar, dass ich meine Wünsche auch äussern könne. Ich hatte allen Ernstes keinen eigenen freien Willen. Aber offensichtlich dennoch den Drang zu leben.
Innerhalb der symbiotische Beziehung zu meinem Zwilling kommunizierten wir viel ohne Worte. Ich erinnere mich noch heute an unsere Zwillingssprache. Sie war ein sicherer Ort, zu dem nur wir zwei Zugang hatten. Und teilweise unser bester Freund. Er war auch der einzige, der unsere Stimmen am Telefon auseinanderhalten konnte. In dieser Bubble blühte ich dann auf. Hier musste ich nichts. Im Spiel war ich sicher. Das ist eigentlich bis heute so.

Zudem vermied unsere Mutter jegliche Form von Streit aus Angst meinen Bruder und mich zu verlieren. Eine folgenschwere Entscheidung, wie sich mit der Zeit herausstellen sollte. Wie soll man einen inneren moralischen Kompass entwickeln in einem Haus, in dem alles der sogenannten Harmonie untergeordet wird? Ist etwas gut oder schlecht. Ist darauf wirklich Verlass oder wird es morgen wieder weg sein? Gerade eine gesunde Streitkultur ist in meinen Augen so wichtig, um eigene und Grenzen von anderen zu erlernen. Und die Erfahrung zu machen, dass wir immer noch da sind, auch wenn wir Streit hatten. Niemand geht weg oder braucht Angst zu haben verlassen zu werden. Erst so kann ich das Verständnis entwickeln, dass es nach einer Auseinandersetzung weitergeht. Und Auseinandersetzung braucht es, um Druck abzubauen. Was lerne ich, als 10-Jähriger, wenn mir in allen Belangen die ultimative Freiheit entgegengebracht wird? In meinem Fall: Wie sich Masslosigkeit und Überforderung anfühlt. Wenn alles in einen schöpferischen, künstlerischen Prozess eingebunden wird, gibt es ausschliesslich die grenzenlose Freiheit.

Ich und mein Bruder hatten beide oft das Gefühl im falschen Film zu sein. Unser Vater ein Komponist und Musikprofessor aus Neapel, den unsere Mutter vergötterte, der aber nie anwesend war. Er stellte, als wir beide noch ganz klein waren, unsere Mutter vor die Wahl: Entweder du gibst die Kinder ab und wir haben unsere Beziehung wieder wie vor der Schwangerschaft oder ich bin weg. Unsere Mutter entscheid sich für uns und ihr blieb eine sehr grosse emotionale Narbe. Nicht dass es uns an Liebe gefehlt hätte. Im Gegenteil: Auch wir wurden gewissermassen vergöttert und überhöht. Einmal bekam ich auf die Frage, warum denn Papa nicht bei uns ist, als Antwort: "Ist doch nicht nötig, ich habe doch bereits zwei Männer im Haus." Mehr Verzerrung und und Verdrängung geht nicht. Nur dass ich klar bin : Unsere Mutter liebte und liebt uns bis heute sehr. Ich liebe meine Mutter, aber warum ich das Bedürfnis habe hier zu schreiben ist, dass ich auf der Suche bin. Ich versuche mir Schmerz und Unverständnis von der Seele zu schreiben und vielleicht löst sich dabei etwas, was mich irgendwie weiter bringt. Meinen Vater kenne ich nicht allzu gut. Wir sahen uns immer sporadisch in Italien oder Griechenland und erst in den letzten 3 Jahren habe ich wieder Kontakt zu ihm über seine japanische Frau, die ihn gewissermassen gerettet hat. Er ist jetzt 85 Jahre alt und dement und auf eine neue Art sehr liebevoll und zart. Wenn wir in Livorno zusammen sind blitzt eine grosse Güte durch seine Augen...So kannte ich ihn nie. Seine Frau sagt immer ich sei ihm von seinen 5 Söhnen (von vier Frauen) am ähnlichsten. Sie betont vor allem den sechsten Sinn. Erst vorgestern habe ich ihr zum ersten Mal von meinem aktuellen Heilungsweg erzählt und sie gefragt, ob sie mir mehr über meinen Vater erzählen könne, ob sie vielleicht wisse, ob auch er mit Ängsten und Traumata zu kämpfen hatte. Ich könnte mir vorstellen, dass das Gefühl, dass mein Vater nie greifbar war, daraus entstand, dass er sich nie greifbar GEMACHT hat. Allein auf dem Segelschiff mit Debussy ins Abendrot. Ich bin so gespannt, wie sie mir zurückschreibt. David

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