#6 Carlo Alberto Napoli
- David Buri
- 29. Nov. 2024
- 3 Min. Lesezeit
28.November 2024
Vor sechs Tagen ist mein Vater gestorben. Ich bekam die Nachricht einen Tag später von seiner Frau. Sie schrieb: "Our so loved Carlo has left us yesterday afternoon. It was a sunny day,
In his bedroom, around his favourite hour, in sleep."

Ich wusste nicht, wie ich mit seinem Tod umgehen sollte, da er für mich gefühlt schon etliche Male gestorben war. Immer und immer wieder Enttäuschungen, abrupte Kontaktabbrüche und bis zum heutigen Tag eine untastbare Ikone für meine Mutter. Wo ist hier oben und unten?
Nur Dank meiner Partnerin Lisa und seiner Frau kam der Kontakt vor drei Jahren wieder zustande. Wir begegneten uns wieder nach 20 Jahren. Er war weich und humorvoll und so einzigartig, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Und er war dement und rührend umsorgt von seiner Frau. Und so erlebte ich doch noch einen zugänglichen Vater, der mir erstaunlicher Weise in seinem jetzigen Zustand immer wieder sagte ich solle den grätigen Fisch doch "Senza paura", ohne Angst essen.

Carlos Beisetzung fand in Livorno statt, wo er die letzten 20 Jahre mit seiner japanischen Frau lebte, die ihn vor 25 Jahren aus dem Nichts gerettet hat. Hier sind seine Freunde und für die Familie ist es ein zentraler Ort. Und alle kommen noch einmal für die "compagni di merenda"zusammen. Ein letzter gemeinsamer Snack als Symbol für ewige Freundschaft.
Lisa und ich fahren noch am selben Tag nach Livorno. Um kurz vor Mitternacht steigen wir als einzige noch verbliebene Fahrgäste aus dem Zug in Livorno aus. Die Reise: Eine Herausforderung. Vor allem gegen Ende, wenn die Energiereserven zur Neige gehen.
Aber: wir schaffen es. Wir checken ins "Hotel Stazione" ein. Nach einer etwas unruhigen Nacht, fahren wir nach einem typisch italienischen Weissmehl-Frühstück zum "Cimitero comunale dei Lupi". Hier treffen Lisa und ich meinen Bruder Gabriel mit seiner Frau und seinen drei Kindern. Ein sehr schönes Wiedersehen nach einem Jahr. Dabei wohnt er doch eigentlich nur in München und wir am Zürichsee...
Wir lernen heute beide unseren Halbbruder Claudio kennen, der auf Grund seiner markanten Kinnpartie und seines breiten Lächelns unverkennbar Carlos Sohn ist. Auch seine Mutter ist dabei. Carlos Frau kommt mit einer Freundin, einer Opernsängerin.
Weiter anwesend ist Stefano, der ehemalige Leiter des Konservatoriums Livorno, der in seiner Abschiedsrede vor allem eines bedauert: Die Tatsache, dass Carlos musikalisches Werk kaum zu finden ist. Weder online noch offline. Und dass es ein sehr begrüssenswertes Projekt wäre, seine Partituren mit Leben zu erwecken. Eines sei Carlo allemal gewesen: "a very strange character". Stefano sagt dies nicht ohne ein verschmitztes Lächeln.
Wir tauschen Nummern aus. So wie Carlo war, bin auch ich ersteinmal sehr euphorisch und begeistert davon, sein Vermächtnis mit der Welt zu teilen. Aber wie ?
Nach den "merenda" im privaten Aufbewarungsraum wird Carlo in seinem Sarg zu seinem letzten Ruheort gefahren. Er wird - wie bereits bei den Etruskern üblich - gut gekalkt samt Sarg seinem neuen Zuhause übergeben. Wir geben noch Blumen und kleine, persönliche Gegenstände zum Sarg und dann wird er hineingeschoben. Dann wird zugemauert. Hiromi wird sich nach Griechenland begeben, um seinen Epitaph, der aus Marmor der griechischen Insel Paros stammen soll, anfertigen zu lassen.

"Nun liegt es an uns die Familie näher zusammenzubringen", sage ich zu Claudio. Ich möchte ihn gerne weiter kennenlernen. Allerdings fährt er noch vor dem Essen mit seiner Mutter wieder nach Neapel. Und so sind wir zu acht - Lisa, mein Bruder mit Frau, seinen drei Kindern und Carlo`s Frau - in einer typisch Livornesischen Taverne. Und es fühlt sich wirklich an wie Familie. Es ist meine echte Familie. Tolles Essen, viele Geschichten. Beständigkeit. Ich halte zwar die Lautstärke im Restaurant nur schwer aus,
fühle mich aber im Kreise der
Familie sehr sicher.
Ich bestelle mir ein kleines Bier,
und stecke mir Ohropax in die Ohren. Das Geklirre der Teller, die Geschäftigkeit weichen, der Herr des Hauses erkundigt sich mehrfach, ob alles in Ordnung ist. Ja, das ist es. Sehr sogar.
Auf der Heimfahrt am nächsten Tag, besprechen Lisa und ich, ob ich tatsächlich ein Projekt zu Carlos Leben und Werk beginnen soll. Einen Dokumentarfilm. Ja, warum nicht einen Film! Unveröffentlichte Musik, Stimmen seiner Wegbegleiter, Orte seines Schaffens. Vielleicht einen ersten Teil zu Stücken für Piano forte, vielleicht einen zweiten Teil mit Kammermusik.
Stefano erzählte, er habe sehr viel komponiert, oft mit kleinen, innigen Bemerkungen am Rande der Partituren.
Ich würde ein solches Projekt lieben. All die Nachforschungen, und kleinen Anekdoten. Jetzt gerade frage ich mich, wie ich das machen soll. Wie soll ich alleine nach Italien mit meiner Angsterkrankung? Oder soll ich vielleicht einfach mal mit der Recherche beginnen? Telefonate führen, E-Mails schreiben, das Konzept und den Rahmen des Filmes festlegen, Stücke auswählen, den oder die Musiker finden, den Videographer ansprechen? Wer käme in Frage? Es wäre sicher eine spannendsten Reisen meines Lebens und ein kleines Vermächtnis für uns und unsere Kindeskinder. Ich werde mich unzählige Male überwinden müssen. David

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